Österreich hat nicht ein Schulsystem, nein, es hat zwei, nämlich die Systeme AHS und Mittelschule (MS). Beide funktionieren überraschend gut, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die AHS möglichst wenig von der Existenz der MS tangiert wird. Die einzige Existenzberechtigung der MS aus der Perspektive der AHS ist jene einer Art Fegefeuer, mit dem Schüler:innen im Falle zu geringer Anpassungsleistung an die Anforderungen der AHS gedroht werden kann.

Das System MS hingegen blickt begehrlich zur AHS auf. Wie gern würde auch es unter sich etwas wissen, wohin Schüler:innen, die in irgendeiner Weise unangepasst sind, zugewiesen werden können. Zur Hoffnung gibt Anlass, dass bisher keine nennenswerten Bestrebungen bestehen, die Situation durch die Schaffung eines dritten Systems zu noch weiter zu verschlechtern. Diese Situation ist von allen politischen Parteien Österreichs so gewollt. Keine von ihnen hat auch nur den Ansatz eines Konzeptes, wie die mannigfaltigen Nachteile von Schüler:innen, die sich im System MS befinden, beseitigt werden können. ÖVP und FPÖ sind explizit gegen die Beseitigung von Nachteilen für MS-Schüler:innen. Von der SPÖ kann dies nicht gesagt werden. Sie hat sich jedoch Jahrzehnte lang in beiden Systemen gut eingerichtet, nimmt die ihr proporzmäßig zufallenden Bereiche und die damit verbunden Führungspositionen ein und steht sich bei einer grundlegenden Kritik der Situation selbst im Weg. Die Grünen und die Neos sind sich offenbar noch nicht im Klaren, warum – genau - auch sie nichts an der Existenz von zwei parallelen, quasi kontaktlosen Systemen auszusetzen haben. Die/der oberflächliche Beobachter:in wird vielleicht einwenden, dass obige Beschreibung auf die den Paralleluniversen AHS und MS vorgelagerte Volksschule (VS) nicht zutrifft. Sie oder er irrt! Wenngleich dort alle Schüler:innen einen gemeinsamen Schultyp besuchen, wird möglichst früh damit begonnen, kleine Kinder den nachgeordneten Bildungsschubladen zuzuteilen.
Durch die Ausübung dieser Selektionsfunktion erwächst der VS eine wichtige, systemerhaltende Funktion. Sie sieht sich als Bestimmerin über die Bildungschancen ihrer Schüler:innen, ermächtigt einen Reifebefund für das System AHS auszustellen oder auch nicht. Wenn sie 10 Jahre alt sind, wird über österreichische Kinder eine Entscheidung gefällt, die praktisch unumkehrbar ist. Alle Entwicklungen, die danach stattfinden sind für die Einteilung in AHS oder MS irrelevant. Dies wird verständlich, wenn man bedenkt, dass das betreffende Urteil nicht vorschnell gefällt wird, sondern auf jahrlanger Testung der Kinder basiert. Schon die 8jährigen werden kritischen Auges auf ihre Tauglichkeit für das System AHS geprüft.
Ein Blick über die Landesgrenzen hinaus relativiert dieses Verständnis. Es gibt kaum Länder, in denen die Trennung der Kinder in zwei völlig unterschiedlich ausgerichtete, strikt getrennte Bildungswege so früh erfolgt. Die machen es alle falsch! Damit nicht genug! Viele Länder haben gar keine zwei unterschiedlich ausgerichteten, strikt getrennten Bildungswege. Nicht auszudenken! Bei uns hingegen ist alles klar geregelt. Kinder, denen der Eintritt ins System AHS ermöglicht wird, finden dort vorteilhafte Rahmenbedingungen vor und müssen dafür einem erheblichen Leistungsdruck entsprechen. Kinder, die daran scheitern – aus welchem Grund auch immer – müssen sich mit einem Platz im System MS begnügen. Dies hat zur Folge, dass der bei weitem überwiegende Teil von Kindern, die in irgendeiner Hinsicht benachteiligt sind, in MS unterrichtet und betreut werden muss, wodurch dortselbst tendenziell ungünstige Rahmenbedingungen entstehen. Die AHS hat alle Vorteile, die MS alle Nachteile. Was Letzteres in der Praxis sehr oft bedeutet, will sich niemand vorstellen. Die Politik nicht und infolgedessen auch die von der Politik eingesetzten Verantwortungsträger:innen in den Bildungsdirektionen nicht. Es ist im Interesse der ÖVP und in geringerem Maße auch der SPÖ, dass die Systeme AHS und MS in der hier beschriebenen Form bestehen bleiben. Dies nicht ohne Grund. Die beiden separaten Systeme bieten die Möglichkeit, einerseits dem Wunsch vieler Eltern nach einer sehr leistungsorientierten Schule (AHS) zu entsprechen und gleichzeitig fast die gesamte soziale Problematik dem Parallelsystem MS aufzulasten. Dabei bleiben Ansätze, wie jener der Inklusion von Kindern mit Behinderungen oder die ganztägige Betreuung auf der Strecke. Unter verschlechterten Rahmenbedingungen verursacht durch unklare Ressourcenverteilung und das Fehlen ausgereifter Konzepte, hat die Situation im System MS eine gewisse Grenzwertigkeit erreicht. Behördlicherseits wird dies schlichtweg ignoriert.
Ein tiefer Graben verläuft zwischen den Schulen dieses Landes. Er lässt die Trennung unausweichlich erscheinen und verunmöglicht Ansätze der Gleichberechtigung. Es gibt keine Brücken über ihn hinweg. Ihn zuzuschütten wird lang dauern, aber eine Brücke ist schnell errichtet. Die Plattform „Gemeinsame Bildung 2.0 “ hat sich dem Brückenbau verschrieben. Wir laden zur Beteiligung ein. Auf Unterstützung der Politik brauchen wir dabei allerdings nicht zu hoffen.
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