
Für eine gemeinsame Schule spricht ...
... dass sie Lernen verbessert: Weg von notenzentrierten Büffeln hin zur kindlichen Neugierde und sozialen Integration, unabhängig von sozialem Hintergrund.
Lernmotivation und soziale Integration im österreichischen Schulsystem
Zu den Folgen von leistungs- und notenfixiertem Lernen für Schüler:innen, Lehrer:innen und Eltern
Volksschule, 3./4. Schulstufe
Bei den 9-/10-jährigen wird das neugierige gemeinsame Lernen mehr und mehr vom konkurrenzförmigen, der differenzierten Schulorganisation geschuldeten Notenlernen überlagert. Schüler:innen werden schon in der Volksschule auseinanderdividiert in sehr gute, gute und befriedigend Erfolgreiche und in mehr oder weniger hoffnungslose Versager:innen. Das beschädigt nachhaltig die naive Freud´ am G´scheiter-werden. In der Folge wird es in der österreichischen Schule vor allem um die Noten gehen, um das Vermeiden von Fehlern bei Tests und Schularbeiten und um den individuellen Aufstieg in die bessere Schule. Eltern, die ihrem Kind den Übertritt in eine AHS-Unterstufe sichern wollen, dominieren Elternabende und drängen Lehrer:innen dazu, für gute Noten und damit für die AHS-Reife ihrer Kinder zu sorgen. Widrigenfalls würden sie die Schulleiter:in befassen, manche wenden sich an die Schulaufsicht, an die regionalen Schulqualitätsmanager:innen der Bildungsdirektion.
Die Zeit für soziale Integrationsarbeit, für Nachfragen und Fragen, für Förderung und forschendes Lernen aller Kinder wird unter diesen Umständen knapp. Kinder aus sozial benachteiligten Familien mit geringem Einkommen, kleinen Wohnungen und ohne höhere Bildungsabschlüsse geraten so weiter ins Hintertreffen. Erfolgserlebnisse, Aufmerksamkeit und Zuwendung finden sie weniger über ihre Mitarbeit und gute Noten, als durch „verhaltensauffälliges“ Stören von Unterricht und Pausenordnung.
ABER es gibt auch Kinder, an denen der angesagte Notendruck vorübergeht, die ihre kindliche Wissbegierde und Zuversicht weiterentwickeln, weit über die Primärstufe hinaus. Sie haben in der Regel Mütter, Väter, Verwandte und Lehrer*innen, die ihnen keine Angst machen, weil für sie das Kindeswohl gelebtes Anliegen ist.
Sekundarstufe Mittelschule und AHS-Unterstufe
Primäre Lernmotivation wird mit dem Ausleseverfahren am Ende der Volksschule oft durch konkurrenzförmiges Für-die-Noten-Lernen überlagert. Notendruck als Antwort verstärkt die sekundäre Motivation, fördern aber weder Neugierde noch inhaltlich begründete Lernfreude. Das belastet auch das Unterrichten an AHS mit jedem Schuljahr mehr, ein Problem, dem fachdidaktisch allein kaum beizukommen ist. An der AHS-Unterstufe, an der die allgemeine Schulpflicht absolviert wird, die aber keine Pflichtschule (!) ist, wird zur Problemlösung immer wieder ein Schulwechsel an eine Mittelschule angeraten.
Die Mittelschulen (=Pflichtschule) besuchen im städtischen Bereich vor allem sozial benachteiligte Schüler:nnen, die beim Ausleseverfahren der Volksschule gelernt und erfahren haben, dass sie weniger wichtig sind, weniger Chancen auf Erfolgserlebnisse haben als ihre „guten“ Mitschüler*innen, nicht gut genug für eine Bildungskarriere sind, oder deren Familien sich höhere Bildung nicht leisten können oder wollen. Die Lehrer:innen der Mittelschule versuchen sie aufzufangen, ihnen beim Wiedergewinnen von Lernfreude und einem positiven Selbstbild zu helfen, sie beim Wahrnehmen immer noch intakter schulischer Bildungschancen zu unterstützen. Ähnliches gilt auch bei der Integration von aus einer AHS abgeschobenen Kindern und Jugendlichen.
ABER es gibt auf jeder Schulstufe interessierte Schüler:innen, oft auch für gemeinsames forschendes Lernen und Querverbindungen aller Art engagiert, die Unterrichts- und Sozialarbeit ihrer Lehrer:innen unterstützen, bereichern, auch zur Freud´ machen können, weil sie nicht für die sehr gute Note bzw. das fürs Genügend unbedingt Notwendige lernen müssen. Klassenzusammensetzung, Klassen- und Schulklima bestimmen auch hier die Freiräume und Möglichkeiten der Lehrer:innen.
... dass sie die Bildungschancen für alle Schüler:innen unabhängig von sozialem und finanziellen Hintergrund verbessert und gleichzeitig mehr echte Familienzeit ermöglicht
Elternhaus und Schule
Bildungserwerb von Kindern und Jugendlichen geschieht auch und vor allem in der unterrichtsfreien Zeit und wird dabei wesentlich vom sozialem Status, Wohnraum, Freizeitverhalten und finanzielle Möglichkeiten der Eltern bestimmt. Berufstätige Arbeitnehmer:innen brauchen für ihre Kinder Ganztagsschulen, Hortangebote oder Schulen mit Nachmittagsbetreuung, wenigstens bis zur 6. Schulstufe, dann sind die Kinder schon recht selbständig auch allein zu Hause sein, ohne das Nachmittagsbetreuungskosten anfallen. Anders Haushalte mit höheren Einkommen, zum Teil mit nur einem Elternteil in Vollarbeitszeit und mit eigenen Kinderzimmern samt PC und Internet. Sie können und wollen die Gestaltung der Nachmittage ihrer Kinder übernehmen, musikalischen oder kreativen Zusatzausbildungen organisieren, auch Sport und Spiel, die Lernbegleitung bei Hausübungen und bei Bedarf Nachhilfestunden. Auch der Besuch von Kulturveranstaltungen, Ausflüge und Urlaubsreisen dienen oft recht beiläufig der Allgemeinbildung. Die soziale Schere zwischen Eltern, die ihren Kindern nach der Schule viel bieten können, und weniger verdienenden, oft alleinerziehenden Eltern, wird am Nachmittag nicht kleiner, sondern geht weiter auf.
ABER: Pädagogische und didaktische Erkenntnisse und internationale Erfahrungen sprechen für ganztägigen verschränkten Unterricht. Denn 5, 6 Stunden Unterricht zwischen 8 und 14 Uhr überfordern die Aufnahmebereitschaft und Konzentration fürs Lernen. Dagegen fördert eine Verteilung von Unterrichtszeiten über den Ganztagsschultag, verbunden mit individuelle und gemeinsame Zeitfenster für Entspannung, freie Gestaltung mit Rückzugsräumen für Schüler:innen zwischen den Unterrichtsstunden das individuelle und soziale Lernen aller Kinder. Schulküchen und gemeinsames Mittagessen in der Schule runden dieses Ganztagsprogramm ab. Der Streit über noch nicht gemachte Hausübungen, vergessene Aufgabenstellungen und Schulstress für die ganze Familie könnten der Vergangenheit angehören.
... dass ein alternatives, wertschätzendes und individuell-förderndes Beurteilungssystem den Lernenden zugutekommt.
Leistungsbeurteilung und vererbte Bildungschancen
Für Wertschätzend-fördernde Lernbegleitung und „Formative Leistungsüberprüfung“ in einer gemeinsamen Pflichtschule
Ziffernnoten im Jahreszeugnis und die Aufstiegsberechtigung in die nächste Schulstufe
In Österreich lernen Kinder ab der ersten Ziffernnote im Volksschulzeugnis immer weniger aus Interesse und Freud´, immer weniger in ihrem Tempo und gemeinsam mit den anderen Kindern. Es geht immer weniger darum, sich selbst und die Welt besser zu verstehen, und immer mehr um die Noten. Volksschüler*innen lernen schnell und nachhaltig, was ihre Eltern und Lehrer*innen als Kinder gelernt haben: Eine Berechtigung zum Aufsteigen in die nächste Schulstufe gibt es nur mit positiven Zeugnisnoten, der Aufstieg in eine bessere, höhere Schule braucht gute und sehr gute Noten. Mit negativen Noten fällt man durch und müssen die Klasse wiederholen.
Mit Prüfungen, Tests, Schularbeiten und den Zeugnisnoten steigt der Leistungsdruck. Leistungsdruck und damit verbundene Schulängste erreichen einen ersten Höhepunkt, wenn das Zeugnis der 4. Klasse Volksschule ansteht und Eltern über den weiteren Bildungsweg ihrer Kinder entscheiden müssen: Mittelschule (früher Hauptschule) oder AHS-Unterstufe (Gymnasium)? Die frühe Bildungswegentscheidung ist durch das Schulorganisationsgesetz 1962 verfassungsgesetzlich vorgeschrieben und hängt von der gesellschaftlichen Stellung der Eltern ab. Bildungschancen werden in Österreich zu einem großen Teil „vererbt“. Herkunft, sozialer Status und Bildungsabschlüsse der Eltern bestimmen die Lernmöglichkeiten und Lernerfolge von Kindern“ (Statistik Austria, 2018[1])
ABER. Gesetze werden von Menschen gemacht und sind veränderbar. Es gibt Länder, die im Pflichtschulbereich auf das Aussondern von Schüler:innen durch Zeugnisnoten verzichten und in denen das Jahreszeugnis entscheidet, ob eine Schülerin oder ein Schüler im September zum Aufstieg in die nächste Schulstufe berechtigt ist oder die Klasse wiederholen muss. So gibt es in Finnland für die Sieben- bis 15-Jährigen und ihre Lehrer:innen keine Notenpflicht. Stattdessen werden mindestens einmal jährlich die individuellen Lernfortschritte beurteilt und besprochen, denn das gesellschaftlich erwünschte pädagogische Anliegen ist die bestmögliche Förderung der Kinder und Jugendlichen. Unkommentierte Ziffernnoten sind im finnischen Schulsystem nicht zulässig. Wie motivierende formative Leistungsbeurteilungen konkret gestaltet werden, entscheiden die Schulen. Schriftliche Tests, mündliche Überprüfungen oder laufende Dokumentation der Mitarbeit und ihrer Ergebnisse, kommentierte Ziffernnoten 10 – 4 (die Negativnoten 3, 2, 1 werden nicht vergeben) oder verbale Beurteilungen gelten als gleichwertig[2].
Summative Leistungsbeurteilung“, Aufsteigen oder Sitzenbleiben, Schulangst und Konkurrenz in Permanenz
Summatives Abprüfen und Jahreszeugnisse, die am Ende jedes Schuljahres über Vorzug, Aufsteigen oder Klassenwiederholung entscheiden, erleben viele Schüler:innen, Lehrer:innen und Eltern als Belastung. Summative Leistungsbeurteilungen, reproduzierendes Lernen vorgegebener Lehrinhalte und das Bemühen um Fehlervermeidung bestimmen ab der 3. Klasse Volksschule mehr und mehr Unterricht und Lernen. Neugieriges Fragen, das Versuchen neuer Lösungswege und das selbstbewusste Wahrnehmen eigener Stärken und Neigungen werden weniger wichtig.
Wertschätzende, individuell-fördernde „formative Leistungsüberprüfung“, die Stärken erkennt und anerkennt, die nächsten Lernfortschritte vorbereitet, verliert an Bedeutung. Eigenständige und gemeinsame Unterrichtsarbeit und forschendes Lernen werden vom Lernen für die Noten überlagert.
ABER: Die aktuelle Gesamtschuldiskussion stellt die auf Ziffernnoten und Aufstiegsklauseln fixierte Leistungsbeurteilung in Frage. In einer sozial-integrierenden gemeinsamen Schule werden individuelle Lernfortschritte und Erfolgserlebnisse aller Lernenden angestrebt. Die motivierende, leise oder vorlaute Freud´ am miteinander und voneinander Lernen soll schul-systemische Motivation ablösen, die der Lernfreude misstraut und immer noch auf die Angst vor negativen Noten setzt. Ein kinder- und menschenfreundlicheres Schulsystem ist möglich. Auch in Österreich.
[1] file:///C:/Users/RS/AppData/Local/Temp/statistics_brief_-_vererbung_von_bildung.pdf)
[2] (https://www.derstandard.at/story/2000089095599/finnland-bis-zur-neunten-schulstufe-keine-notenpflicht)
Argumente von Reinhart Sellner